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Identitätslos

Ich habe einen fremden Mann getroffen. Ich sehe ihn noch nicht vollständig, aber auch mein Augenwinkel ist Teil meines Bewusstseins. Noch bevor seine Erscheinung auf meiner Netzhaut angekommen ist, habe ich entschieden, dass ich ihn mag.

Er passt gut in das Bild meiner Welt. Er liefert mir die Bestätigung, dass sie in geregelten Bahnen, in den von mir festgestellten Grundprinzipien verläuft. Sein kultiviertes Äußeres lässt darauf schließen, dass er eine gute Bildung erfahren hat. Dort wo er jetzt ist, ist er rechtmäßig, schließlich hat er sich sein Leben lang ins Zeug gelegt – er ist selbstbewusst, aber nicht so, dass ich mich in meinem eigenen Wert herabgesetzt fühle. Ist er geistreich, aber nicht geblendet von sich selbst, lässt er andere Gedankengänge zu, kann die Qualitäten anderer Personen anerkennen? Er ist wie ich, zumindest ein Stück weit, er denkt wie ich, wir sind uns ähnlich.

Vor einem Bruchteil von einer Sekunde habe ich einen fremden Mann getroffen. Ohne dass er überhaupt seinen Mund geöffnet hat, ist mir klar geworden, um was für eine Kategorie Mensch es sich bei ihm handelt.

Er fängt an, sich zu artikulieren. Den Inhalt seiner Worte erfasse ich nicht vollständig, völlig egal. Nur seine Stimme, sein Tonfall zählt. Die ausladenden Gesten, mit denen er alles, was er sagt, unterstreicht, insbesondere sich selbst.

Der fremde Mann ist jetzt mein Freund. Ich mag ihn sehr, die Präsentation seiner Selbst rückt mich an ihn heran, er ist wie ich. Aber nicht vollständig, denn ich muss ihn teilen. Mit anderen Menschen. Menschen, die so anders sind als ich, mir gänzlich unvertraut.

Mit ihnen ist er ganz weit weg von mir. Seine Stimme wird anders, seine Gesten verlieren ihren vertrauten Ausdruck, auch seine Worte verstehe ich jetzt nicht.

Ich werde Zeuge einer Welt und einer Einstellung, die ich nicht kenne, die mich an die Grenzen meiner Belastbarkeit stellt und die mein Weltbild – ganz unerwartet – auf den Kopf stellt. Danach habe ich gar nicht gesucht.

Ich dachte, er wäre wie ich, aber seine Gesten, sein Tonfall, sein Ausdruck sind nur eine Verkörperung dessen, was er nicht ist.

Wer ist er?

Er ist wie ein Chamäleon, in meiner Gegenwart passt er sich mir an. Eigentlich ist er nicht wie ich. Das, was ich zuerst an ihm mochte, war nur seine Spiegelung meiner Selbst, und weiter nichts. Mit mir zusammen ist sein mir fremder Teil fast verschwunden. Dann ist er wie ich, aber wer bin dann Ich?

Der Fremde, den ich einst traf, ist mir nicht mehr fremd, aber ich wünschte, er wäre es. In die Kategorie, in die ich ihn am Anfang eingeordnet habe, passt er nicht, und doch hat er sie sich zu eigen gemacht. Obwohl ich nicht nach einer neuen Lebenseinstellung gesucht habe, hat er sie mir kurzzeitig verpasst. Und ich wünschte, er würde es wieder tun – aber kann er das noch?


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